Vom Krisenbaby bis zur Trennung – Corona birgt ein breites Spektrum an Herausforderungen und Chancen für Paare.
Wie kommen Sie am besten durch diese Zeit? Darüber sprach Diplom-Psychologin und Paartherapeutin Dr. Sandra Hensel mit der Redakteurin Monika Dütmeyer im Coronatalk.
Paarbeziehungen sind ja häufig erfolgreich erprobte Langzeitprojekte – warum kann Corona ihnen trotzdem gefährlich werden?
Dr. Hensel: Corona zehrt an unser aller Nerven und stellt auch eine enorme Belastungsprobe für Paare dar. Denn: Durch Corona hat sich unser partnerschaftliches Zusammenleben stark verändert. Viele Menschen verbringen gerade mehr Zeit mit ihren Liebsten als sonst. Andere sehen sich kaum oder gar nicht mehr. Deutlich spürbar sind inzwischen die weitreichenden Konsequenzen von Kontaktbeschränkungen und Veränderungen auch im beruflichen oder familiären Alltag. Hinzu kommen eingeschränkte Möglichkeiten bei anderen sozialen Kontakten und Hobbys.
Also ist der Beziehungsstress sozusagen vorprogrammiert?
Dr. Hensel: Bei einer derart geballten Summe an Belastungen in dieser Krise sind Stress und Streit leider keine Besonderheit mehr – das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist: Man muss sich dem nicht hilflos ausliefern. Konflikte in der Partnerschaft können mit etwas Engagement für die Beziehung auch vermieden werden!
Zum Beispiel lautet eine Empfehlung, dass wir uns in dieser Zeit besonders um den Partner kümmern sollten, obwohl es gerade so viele andere Probleme um uns herum gibt. Warum?
Dr. Hensel: Liebe, Partnerschaft und Familie rangieren in Umfragen zur Lebenszufriedenheit oft an prominenter Stelle. Anders ausgedrückt: Eine liebevolle Beziehung ist einer der Eckpfeiler eines glücklichen Lebens und Quelle für unser Wohlbefinden. Und Achtung: Glück und Zufriedenheit in der Paarbeziehung gelten auch als wichtige Schutzfaktoren für unsere Gesundheit! Folglich liegt nahe: Gerade in schwierigen Zeiten ist es besonders wichtig, sich um die Beziehung zu kümmern, sie zu stärken und ihr Potenzial zu nutzen, und sich als Paar nicht aus den Augen zu verlieren.
Aber wenn die Nerven aufgrund der ungewohnten Situation blank liegen – wie können es Paare schaffen, trotzdem rücksichtsvoll miteinander umzugehen?
Dr. Hensel: Generell gilt: Damit eine Paarbeziehung gelingen kann, ist es wichtig, ihr ausreichend Aufmerksamkeit zu schenken. Dies fällt in Krisenzeiten wie dieser vielleicht gerade besonders schwer. Und so kommt die Zeit füreinander zu kurz, die Zweisamkeit kann sich im Krisenstress des Alltags verlieren. Aber gerade jetzt ist es besonders wichtig, sich Zeit füreinander zu nehmen, dem anderen zuzuhören und einen Ausgleich zu den ernsten und schweren Themen zu schaffen.
Warum sollte man gerade jetzt bewusst das Gespräch suchen?
Dr. Hensel: Glückliche Paare sind etwa ständig im Gespräch miteinander. Und dabei gilt: Sie sprechen nicht nur dann miteinander, wenn es etwas zu klären gibt, sondern sie reden über positive Ereignisse des Alltags und tauschen sich über Träume, Bedürfnisse und Ziele aus. Lassen wir den anderen immer wieder an unseren Glücksmomenten und den schönen Dingen des Lebens teilhaben, so stimmt uns das positiv und tut der Partnerschaft gut, stärkt das Nervenkostüm und beugt Konflikten vor!
Und wie wertvoll sind Nähe und Berührungen in einer Zeit, in der wir in vielen Lebensbereichen mit einer ungewohnten Isolation zurechtkommen müssen?
Dr. Hensel: Intimität zu erleben, bedeutet vor allem auch, Momente der Nähe, der Zärtlichkeit und der liebevollen Zuwendung miteinander zu teilen. Die Möglichkeiten sind vielfältig: eine sanfte Berührung, zärtliche Gesten wie Händchenhalten oder ein Kuss. Solche Liebesbeweise stärken die Liebe zueinander und festigen die Verbindung.
Wenn einem trotzdem mal die Decke auf den Kopf zu fallen und der Partner auf den Senkel zu gehen droht – wie kann man in so einer Situation Dampf ablassen?
Dr. Hensel: Dass es in einer Beziehung auch mal zu Streit kommt, ist normal. Nun gilt es, Konflikte konstruktiv, sprich respektvoll und lösungsorientiert, anzugehen. Das heißt, droht ein Streit, kommt es auf das „Wie“ an!
Und wie streitet man „richtig“?
Dr. Hensel: Wenn man es schafft, gewisse Regeln einzuhalten, trägt dies entscheidend zu einem dauerhaften Beziehungsglück bei. Besonders hilfreich dabei ist, von dem ganz persönlichen Erleben zu sprechen, sachlich zu bleiben und Vorwürfe und unsachgemäße Kritik zu vermeiden. Jeder kennt das: Mit einer zugewandten Haltung, mit sorgsam gewählten Worten und in einem ruhigen Ton lassen sich die Dinge meist zufriedenstellender klären.
Sollte man sich Konflikte im Moment nicht besser verkneifen?
Dr. Hensel: Es ist normal, dass in einer Paarbeziehung ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Vorstellungen aufeinandertreffen. Auch wenn es natürlich nicht einfach ist, diese anzusprechen, ist verkneifen bei einem handfesten Konflikt aus meiner Erfahrung heraus keine gute Strategie, denn aufgestaute Gefühle können irgendwann herausbrechen. Dies passiert dann meist heftiger als gewünscht.
Also einfach raus damit – ohne Rücksicht auf Corona …
ADr. Hensel: Aktuell gilt wohl: Viele von uns befinden sich derzeit in einer extremen Ausnahmesituation und sind vielleicht schneller gereizt als sonst. Hier hilft es, zunächst einmal etwas Abstand von der Situation zu gewinnen. Mit etwas Abstand sieht die Sache vielleicht gar nicht mehr so schlimm aus, und ich bin besser in der Lage, mein Anliegen sachlich neutral zu formulieren – und nicht vorwurfsvoll. Vermutlich ist man auch gut beraten, wenn man in der derzeitigen Situation mal über eine kleine Macke des Partners hinwegsieht, ohne daraus gleich einen handfesten Konflikt entstehen zu lassen.
Wenn es dann doch passiert und die Fetzen fliegen, wie kann man verhindern, dass ein Streit eskaliert und es womöglich zu Handgreiflichkeiten kommt?
Dr. Hensel: Statt bei Unstimmigkeiten darum zu kämpfen, die eigene Meinung durchzusetzen, ist es hilfreicher, gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, die für beide akzeptabel ist. Das ist natürlich einfacher gesagt als getan, denn gemeinsam einen Kompromiss zu erarbeiten, erfordert von beiden die Bereitschaft, mehr oder weniger weit von der persönlichen Vorstellung abzurücken.
Haben Sie Tipps parat, wie das gelingen kann?
Dr. Hensel: Um aus immer wiederkehrenden Streitthemen herauszufinden, rate ich Paaren oft dazu, ein Stopp-Signal zu vereinbaren, um eine Konflikteskalation rechtzeitig zu bremsen. Mit etwas Abstand lässt sich das Konfliktthema meist ruhiger und sachlicher angehen. Für das klärende Gespräch zum Streitthema hilft es, sich selbst vorher zu fragen: Wo kann ich mir vorstellen, von meiner Meinung abzurücken, damit wir endlich aus der Streitspirale herauskommen? Woran möchte ich festhalten – und wo erwarte ich ein Entgegenkommen von meiner Partnerin, meinem Partner? Und: Wie stelle ich mir einen möglichen Kompromiss vor?
Apropos Abstand – Wie kann man dem Partner auf nicht verletzende Weise mitteilen, dass man auch mal etwas Zeit für sich braucht?
Dr. Hensel: Nähe und Verbundenheit sind unbestreitbar wichtig für eine dauerhaft erfüllte Partnerschaft. Aber jede Paarbeziehung ist anders und es gilt gemeinsam herauszufinden, wie viel Individualität, Freiraum oder Nähe zwei Menschen innerhalb der Beziehung brauchen. Durch die veränderten Rahmenbedingungen während Corona ist es nochmal mehr nötig, immer wieder aufs Neue eine Balance zu finden zwischen dem, was die gemeinsame Beziehung benötigt, und den eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Mein Tipp für Paare: Sprechen Sie darüber mit dem Partner. Das fördert das gegenseitige Verständnis und hilft Konflikten vorzubeugen.
Viele Menschen fühlen sich derzeit auch in ihrer Existenz bedroht, zum Beispiel durch Kurzarbeit, Jobverlust, eine drohende Insolvenz des eigenen Unternehmens, etc. – was macht das mit einer Beziehung und wie sollen die Partner damit umgehen?
Dr. Hensel: Für eine anhaltende Zufriedenheit in der Partnerschaft ist es erforderlich, auch über das zu sprechen, was uns im Innersten bewegt: über Träume, Sorgen, Ängste oder Ärger. Das Teilen von Gedanken und Gefühlen fördert Nähe und Verbundenheit und gilt als Basis für tiefes gegenseitiges Verständnis. So können übrigens auch Konflikte und Meinungsverschiedenheiten rechtzeitig aufgedeckt werden, um zu einer konstruktiven Lösung zu gelangen.
Wahre Liebe oder nicht? – Glauben Sie, dass die Krise als Stresstest für Beziehungen auch die Kraft hat, Wahrheiten ans Licht zu bringen?
Dr. Hensel: Naja, das ist so ein bisschen Kristallkugelweisheit. Aber versuchen wir es: Hier wäre zunächst zu klären, was man unter der wahren Liebe versteht. Vielleicht lässt sich das am ehesten im Unterschied zur ersten Verliebtheit erklären. Wer kennt das nicht: Die neue Beziehung beginnt umwerfend. Man ist verliebt und voller Faszination füreinander, man schwebt sprichwörtlich auf „Wolke 7“. Doch nach einiger Zeit schleicht sich der Alltag ein. Jetzt gilt es herauszufinden, wie aus erster Verliebtheit wahre Liebe wachsen kann.
Und wie wächst die wahre Liebe?
Dr. Hensel: Für mich ist diese wahre Liebe geprägt durch Wertschätzung und Vertrauen sowie von einem starken „Wir-Gefühl“ im Sinne einer tiefen, echten Verbundenheit und einem spürbaren Zusammengehörigkeitsgefühl. All diese Merkmale einer Beziehung können durch das gemeinsame Durchleben von Krisen wie dieser wachsen und die Verbindung stärken und somit – wenn Sie möchten – auch zeigen, wie stabil die Partnerschaft ist.
Heirats- oder Scheidungswelle? Womit rechnen Sie als Folge der Krise?
Dr. Hensel: Hierüber wird ja bereits seit Beginn der Krise viel spekuliert. Noch ist es allerdings zu früh, hier eine fundierte Aussage zu treffen. Ich vermute allerdings auch, dass es zahlreiche Paarbeziehungen geben wird, die aus dieser Krise nicht gemeinsam herausgehen. Persönlich bin ich eher gespannt, ob es Anfang 2021 einen Anstieg bei der Geburtenrate geben wird. Insgesamt ist nämlich herauszuhören, dass die Einschränkungen bei vielen zu einer deutlichen Entschleunigung im Alltag geführt haben. Das wiederum schafft Raum, Zeit und Muße, um mit dem Partner Intimität und erotische Zweisamkeit zu erleben und die gemeinsame Sexualität zu pflegen.
Welche Chancen birgt die Krise für die Liebe?
Dr. Hensel: Wie heißt es doch so schön: In guten wie in schlechten Zeiten – das beinhaltet für mich eine klare Entscheidung, Verantwortung füreinander zu übernehmen und füreinander da zu sein, komme was wolle. Sprich, auch während Corona! Die Bereitschaft, sich dauerhaft für die Beziehung einzusetzen, nicht gleich bei den ersten Schwierigkeiten aufzugeben und sich immer wieder neu zu engagieren, trägt entscheidend zu einer erfüllten Partnerschaft bei. Gemeinsam bewältigte Hürden lassen die Liebe und das Vertrauen wachsen und fördern das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.
Hier geht`s zum Interview im Gesundheitsmaganzin Fitmacher der Heimat Krankenkasse.